Mathem. Plaudereien

Subjekt – Objekt

(Rückbezüglichkeit 1)

„Ein anderes Mal wollte ich über einen Sumpf setzen, der mir anfangs nicht so breit vorkam, wie er wirklich war, was ich herausfand, als ich mitten im Sprung war. Schwebend in der Luft wendete ich daher wieder, dort, wo ich hergekommen war, einen größeren Anlauf zu nehmen. Trotzdem sprang ich auch beim zweiten Anlauf noch zu kurz und fiel nicht weit vom anderen Ufer bis an den Hals in den Morast. Hier hätte ich jämmerlich umkommen müssen, wenn ich mich nicht durch die Stärke meines eigenen Armes an meinem eigenen Haarzopf, mitsamt dem Pferd, das ich fest zwischen meine Knie klemmte, wieder heraus gezogen hätte.” 1

Den Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften kann man vielleicht und auch nur vorläufig so charakterisieren: während wir in den Naturwissenschaften der Welt, den Objekten der Welt und deren gegenseitigen Beziehungen nachgehen, nehmen die Geisteswissenschaften den Menschen selber ins Visier. Während Naturwissenschaftler alles daransetzen, sauber zu trennen zwischen Beobachter und Beobachtetem, zwischen Subjekt und Objekt, sind die Geisteswissenschaftler im Gegenteil bestrebt, in sich selbst hineinzuhören, persönliche Erfahrung, Selbstbeobachtung, eigene Weltsicht mitzuteilen. Deshalb werfen sie den Naturwissenschaftlern vor, das Einssein mit der Welt aufzulösen, die Welt kalt und den Menschen „weltfremd” und unbehaust zu hinterlassen. Und diese bestreiten die Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften, sie gäben nur Meinungen wieder, aber weder könnten ihre Ergebnisse reproduziert noch ihre Methoden katalogisiert noch ihre Aussagen falsifiziert werden.

Endlose Treppe

Kein Wunder, dass Rückbezüglichkeit in beiden Sichtweisen einen so unterschiedlichen Stellenwert einnimmt. Während die Besinnung auf sich selbst in den Geisteswissenschaften zu den vornehmsten Aufgaben gehört, fürchten Naturwissenschaftler den Zirkelschluss wie der Teufel das Weihwasser. Manchmal vergebens.

Um die Geschwindigkeit eines Fahrzeugs zu überwachen, gibt es das Tachometer. Über eine Welle wird ein kleiner Generator angekoppelt, dieser erzeugt eine zur Drehzahl proportionale Spannung, die Spannung bewegt den Zeiger eines Voltmeters. Wenn dieses geeignet kalibriert ist, kann man auf der Skala die Geschwindigkeit ablesen. Ein ganz kleiner Teil der Motorleistung geht in das Tachometer und fehlt beim Antrieb. Das Tachometer verringert unmerklich die Geschwindigkeit, die es messen soll.

Beim Fiebermessen muss sich das Thermometer auf Körpertemperatur erwärmen. Die dazu notwendige Wärmeenergie wird dem Körper entzogen. Prüfung des Reifendrucks verlangt, etwas Luft aus dem Reifen auf die Membran des Manometers zu leiten. Dem Elektrizitätswerk bezahlen wir nicht den Strom, sondern die Energie, die der elektrische Strom mitbringt, sie wird in Kilowattstunden gemessen. Ein bisschen von dieser Energie wird zum Betrieb des Zählers abgezweigt.

Stromkreise

Eine elektrische Schaltung ist auszumessen, Spannung und Stromstärke sind zu ermitteln, ein Voltmeter und ein Amperemeter werden eingefügt. Man schaltet das Voltmeter parallel, das Amperemeter in Reihe zum Verbraucher. Nach den Gesetzen, die in Stromkreisen gelten, misst in der ersten Schaltung das Amperemeter den Strom korrekt, das Voltmeter die Gesamtspannung in der Reihenschaltung aus Verbraucher und Amperemeter und damit eine zu hohe Spannung.

In der zweiten Schaltung ist es umgekehrt, das Voltmeter zeigt die korrekte Spannung an, das Amperemeter den Strom, der sowohl durch den Verbraucher als auch durch das Voltmeter fließt. Diese Verfälschung ist nur solange unerheblich, wie im Vergleich zum Verbraucher das Voltmeter einen riesengroßen, das Amperemeter einen verschwindend geringen Widerstand besitzt. Das ist in der Regel gegeben. In Schaltungen der Elektronik aber ist das nicht immer der Fall und man muss mit Überraschungen rechnen. (Zum Glück lässt sich nach den Gesetzen von Parallel- und Reihenschaltung die Rückwirkung der Messgeräte wieder herausrechnen, aber dieses Glück haben wir nicht immer.)

In der Quantenphysik ist die Wirkung des Messverfahrens auf die Messgröße ungleich größer - was auch mit der Winzigkeit der dort zu erfassenden Messgrößen zusammenhängt. Einen gewöhnlichen Körper zu lokalisieren gelingt am ehesten, wenn wir ihn sehen. Der Körper muss dazu mit Licht angestrahlt werden, ein Teil dieses Lichtes wird von ihm zurückgeworfen, ein Teil des zurückgeworfenen Lichtes erreicht unser Auge (oder eine Kamera oder eine Lichtschranke). Bei dem „Licht” kann es sich auch um Infrarot- oder RADAR- oder RÖNTGENstrahlen handeln, gleichviel, jedenfalls ist sein Auftreffen unerheblich. Wenn aber Licht, wenn ein Lichtteilchen, ein Photon, auf ein Elektron trifft, ist das gar nicht mehr unerheblich. Es kommt zu einer Wechselwirkung zwischen annähernd gleichwertigen Partnern. Das Elektron wird von dem Photon gestoßen und vorbei ist es mit einer unbeeinflussten Beobachtung.

Um die Geschwindigkeit von Elektronen zu erfassen, bedient man sich sogenannter Geschwindigkeitsspektrometer. Die Elektronen treten in ein homogenes Magnetfeld ein. Durch die Lorentzkraft werden sie auf eine Kreisbahn gezwungen. Der Radius der Kreisbahn sagt etwas über ihre Geschwindigkeit. Aber nicht nur sind die Elektronen dadurch aus ihrer urprünglichen Bewegung geworfen. Durch die bei der Richtungsänderung erfahrene Beschleunigung werden sie auch noch zur Veränderung des sie begleitenden elektromagnetischen Feldes und damit zur Energieabgabe veranlasst. Es ist schon ein Wunder, dass wir trotzdem so viel über Elektronen wissen.

Wie können wir überhaupt etwas wissen, wenn das Messverfahren derart einschneidend das Messergebnis beeinflusst? Darüber wunderte sich schon Niels Bohr und erklärte es folgendermaßen:

Schauen Sie doch bitte mal her. Ich habe hier ganz schmutziges Wasser und ganz schmutzige Teller. Ich tue diese Teller in dieses schmutzige Wasser rein und die Teller werden sauber! Ist das nicht komisch? Das ist doch genauso wie bei uns mit den Theorien. Wir haben ganz ungenaue Experimente, wir haben ganz unscharfe Begriffe, und doch kommen dabei am Schluss immer schöne Theorien heraus. 2

Es ist derselbe Vorgang, der uns in Stand setzte, vom Faustkeil zur Rasierklinge voranzuschreiten: indem es immer wieder gelang, mit einem etwas gröberen Werkzeug ein etwas feineres Produkt herzustellen. Ein Vorgang, der auch in der Mathematik nicht unbekannt ist und dort Iteration heißt. (Aber das ist eine andere Geschichte.)

___________________
1 Bürger, Gottfried August, Münchhausen, München: Moewig, 1977, ISBN 3-8118-0008-6, S. 55
2zitiert nach: http://www.br-online.de/download/pdf/alpha/d/duerr_2.pdf, S. 4 (18.7.2010)
≡ Navigation
 
↑ Seitenanfang