Bei Gelegenheit

Erinnerungen

(Zusammengestellt für den Jahresbericht 2007 des Gymnasiums Melle)

Am 1. August 1973 trat ich meinen Dienst am Gymnasium Melle an. Zuvor hatte ich am Gymnasium in Gladbeck im Ruhrgebiet unterrichtet.

Mein allererstes Erlebnis als angehender Lehrer hatte ich in Detmold am Leopoldinum II. Wir wurden als neue Referendare zum Lehrerzimmer geleitet und hörten in einiger Entfernung ein paar Quartaner: „Da kommen die neuen Stifte, die kriegen wir auch noch klein!” Am Ende kam es denn doch nicht so wild, und wenn die obligaten Lehrproben anstanden, waren die Schüler genauso angespannt und bemüht wie wir.

Nach dem zweiten Examen konnten wir uns unsere Arbeitsstelle aussuchen, sollte man denken, schließlich wurden wir überall gebraucht. Dem war nicht so, das Provinzialschulkollegium, so hieß diese Einrichtung in Westfalen, hatte seine festen Vorstellungen, welche Löcher am dringlichsten zu stopfen wären, und so kam ich nach Gladbeck.

Es war die Zeit äußersten Lehrermangels. An dem damals zwei- bis dreizügigen Gymnasium in Gladbeck war ich zeitweilig der einzige vollausgebildete Lehrer für Mathematik und Physik. Entsprechend schwer war es, von dort wegzukommen. Man mag sich heute gar nicht mehr vorstellen, dass ich meine feste Stelle in Gladbeck kündigte, um in den Schuldienst des Landes Niedersachsen eintreten zu können.

Auch in Niedersachsen mangelte es an Lehrern. 1964 hatte Georg PICHT den Bildungsnotstand ausgerufen und die Aktivierung brachliegender Bildungsreserven gefordert. Auf die in der Folge einsetzende verstärkte Nachfrage nach gymnasialer Bildung war das Gymnasium Melle wie viele andere nicht ausreichend vorbereitet. Der Unterricht konnte nur aufrecht erhalten werden, indem schulfremde oder im Ruhestand befindliche Lehrkräfte angeworben und Klassen in das Berufsschulzentrum ausgelagert wurden.

Dieser Zustand räumlicher und personeller Knappheit hat mich mein ganzes Lehrerleben begleitet. Waren zunächst keine Lehrer zu bekommen, so gab es später Interessenten genug, aber es fehlten die Mittel, sie zu beschäftigen. Nachdem die schlechten Einstellungschancen sich herumgesprochen hatten, waren wiederum zu wenige bereit, ihre Lebensplanung auf diese vage Aussicht auszurichten, ganz wie bei Wilhelm Busch:

Aus der Mühle schaut der Müller,
der so gerne mahlen will.
Stiller wird der Wind und stiller,
Und die Mühle stehet still.
„So geht's immer, wie ich finde!”
Rief der Müller voller Zorn.
„Hat man Korn, so fehlt's am Winde,
Hat man Wind, so fehlt das Korn!”

Es entspannte die Lage, wenigstens vorübergehend, als Niedersachsen die Orientierungsstufe einführte, weil diese das Gymnasium von den fünften und sechsten Klassen entlastete. Gleichzeitig wurden weitere Klassen in das neu errichtete Schulzentrum ausgelagert. Damit begann eine jahrelange Wanderei zwischen den beiden Schulstandorten, die erst mit der Fertigstellung des naturwissenschaftlichen Traktes am Gymnasium endete.

Die Einführung der Orientierungsstufe wurde schon erwähnt. Zu jener Zeit löste das Kurssystem in der Oberstufe den traditionellen Klassenverband ab. Verbindlich eingeführt wurde es 1976 mit dem sogenannten „Wanderloch”, einer mystischen Erscheinung, die der Umstellung des Schuljahreswechsels vom Frühjahr auf den Spätsommer zu verdanken war, denn dabei wurde ein Einschulungstermin ausgelassen. Für die Wiederholer allerdings wurde ein Auffangjahrgang eingerichtet, mit diesem setzte das Kurssystem ein.

Es begann als große Freiheit. Alles war möglich, wenig war verbindlich. Exotische Themen wurden ausprobiert und wieder verworfen. Fächer wurden gewählt und abgewählt. Sehr bald war klar, dass es so auch nicht ging, deshalb wurde das System fortlaufend weiterentwickelt. Für keine zwei Jahrgänge galten dieselben Regeln, ja nicht einmal innerhalb ein und derselben Gruppe, denn Wiederholer wurden zu ihren urprünglichen Bedingungen weitergeführt.

Aus dem Bestreben, einen Ausgleich zu finden zwischen einer allen gemeinsamen Bildungsgrundlage und dem Eingehen auf persönliche Neigungen, entwickelte sich ein komplexes Gefüge aus Pflicht­auflagen, Einbringungs­verpflichtungen, einheitlichen Prüfungs­anforderungen und Berechnungs­verfahren, so dass von der großen Freiheit nur noch wenig zu spüren war. Zuletzt löste die Profil­oberstufe mit ihrem System aus verbindlichen Kern- und Schwerpunkt­fächern sowie frei wählbaren Ergänzungs­fächern das Kurssystem ab.

Wie das Kurssystem wurde auch die Abiturprüfung unentwegt modifiziert. Der Termin wurde nach vorne geschoben, nach hinten geschoben, zeitweilig lag er am Beginn des letzten Semesters, bevor überhaupt die Zulassung zur Prüfung gesichert war. Der Kanon der Prüfungsfächer wurde präzisiert, über die Prüfungsinhalte gab es Vorgaben. Neueste Errungenschaft ist das Zentralabitur. Ob das alles die Prüfung schwerer oder leichter machte, ob man sie dadurch objektiver vergleichen oder besser nachprüfen konnte, ob sich überhaupt so ganz viel geändert hat, seit Roda Roda die Verzweiflung eines Abiturienten wie folgt darstellte?

Am Abend vor dem Abitur war es, da blickte der Oberprimaner Kulcke gläsern in die Luft und sprach: „Ich kann nicht beurteilen, ob die paar Brocken Wissens, die ich in Physik habe, groß genug sind, die gähnenden Lücken meiner Chemie­kenntnisse zu stopfen. Eins aber ist sicher: in Geschichte weiß ich nicht einmal, wann das Jahr 1848 war.”

Es war noch in Gladbeck, dass eines morgens die Schule hastig evakuiert werden musste – Bombenalarm. Alle Schüler draußen, großes Hallo, die Polizei erschien. Was tun? Spezialisten für solche Fälle gab es noch nicht, wir mussten selber handeln. Ein Polizist und der jüngste Lehrer – ich –, wir gingen durch alle Klassenräume, schauten sicherheitshalber in die Lehrerpulte und erklärten dann die Schule für bombenfrei, der Unterricht wurde wiederaufgenommen. Gladbeck war nicht die einzige Ort, an dem damals so etwas passierte.

Meines Wissens blieb Melle diese Erfahrung erspart. Doch die Nachwirkungen der Studentenunruhen erreichten – mit etwas Verspätung – auch unser Gymnasium. Die Siebzigerjahre brachten wie überall politisch angehauchte Auseinandersetzungen, Demonstrationen, Schulstreiks, Konferenzen, Sanktionen. Das Haussegen hatte gewaltige Schlagseite.

Der Zeitgeist wehte aus wechselnden Richtungen. Eine zeitlang war jede Andeutung von äußeren Formen verpönt. Die Schüler gaben sich große Mühe, jeden Anschein von Konvention in Kleidung und Benehmen zu vermeiden. Das ging bis in die Prüfungen und in die Entlassungsfeiern. Etwas Lust an der Provokation war wohl auch dabei.

Später schlug das Pendel zur anderen Seite aus.

Eine ähnliche Entwicklung lässt sich am „Abi-Ulk” nachvollziehen. Schon früh erhielt die befreite Ausgelassenheit nach dem letzten Prüfungsteil einen Unterton von Aggressivität und Revanche für jahrelang erlittene Unbill, wenn die Abiturienten zu nachtschlafener Zeit die Lehrer heimsuchten, die ganze Nachbarschaft mit Getöse aufweckend, oder am nächsten Vormittag den Unterricht aushebelten. Im Laufe der Zeit wandelte sich die Veranstaltung zu der Verpflichtung, sich komme was da wolle die Nacht um die Ohren zu schlagen und löste sich später auf in einen gemeinsamen Grillabend und eine lustige Vormittagsparty für die jüngeren Klassen.

Ich denke, darin zeigt sich nicht nur der veränderte Zeitgeist, sondern auch ein Schüler und Lehrer verbindendes Interesse an einem entspannten Umgang miteinander.

Der tägliche Umgang miteinander – das war der Unterricht. Wenn man von einigen zaghaften Versuchen absieht (ich spreche von mir), das Klischee

Wenn alles schläft und einer spricht,
nennt man das ganze Unterricht

aufzubrechen, gilt immer noch diese Kommunikationsstruktur: da sind ein Sender S und ein Empfänger E, und der Informationsfluss läuft von S nach E, von Rückkopplungen zur Vermeidung von Übertragungsfehlern abgesehen. Es sind ja auch gewisse stoffliche Vorgaben zu erfüllen.

Anders die Inhalte, da hat sich wirklich einiges getan. Wahrscheinlichkeit und Statistik, während meines Studiums exotische Zusatzangebote abseits des verpflichtenden Kanons, gehören heute ganz selbstverständlich zum Schulpensum. Halbleiter waren zwar schon entdeckt, aber benutzt wurden immer noch Röhren, „Transistor” war ein anderes Wort für Kofferradio. Einige besonders pfiffige Kommilitonen programmierten auch schon auf Lochkarten, die sie am nächsten Tag mitsamt des dokumentierten Programmabbruchs und der Fehlerliste wieder ausgehändigt bekamen.

In der Schule wurde mit Rechenschieber und Logarithmentafel gearbeitet. Mit der Einführung des ersten Taschenrechners endete für viele jegliche mathematischen Kultur. Während es aber in der Mathematik immer noch dabei blieb, dass jeder Satz und jedes Ergebnis den Schülern auch sauber begründet werden kann, entfernte sich die Physik von dem urprünglichen reduktionistischen Ansatz und entwickelte sich immer mehr zu einer Sammlung von Phänomenen.

Dabei gewann der mathematisch-naturwissenschaftlich-technische Bereich ständig an Gewicht. Setzte etwa die Physik anfangs erst in der Obertertia – Klasse 8 – ein, so finden wir sie inzwischen ab Klasse 5 im Lehrplan. Und während, zumindest im sprachlichen Zweig der alten Oberstufe, die Physik mit Klasse 11 und die Mathematik mit Klasse 12 endete, gehören Mathematik und mindestens eine Naturwissenschaft jetzt bis zum Abitur zu den Pflichtauflagen.

Der explosionsartig angewachsene Computereinsatz in fast allen Fächern scheint mehr Beständigkeit zu gewinnen als eine Reihe heute längst vergessener Versuche. Während meiner Referendarzeit stellte man uns eine Lernmaschine vor.„Programmierte Unterweisung” lautete das Schlagwort, und es erschienen reichlich Bücher, die den Anspruch erhoben, besser zu sein als jeder Lehrer. Sie waren alle nach demselben Schema gestrickt: Ein kurze Unterweisung, eine Multiple-Choice-Frage und zu jeder mögliche Antwort ein Seitenverweis, wo es weitergehen sollte. Genauso verschwunden sind die Sprachlabors, die einmal als der letzte Schrei beim Fremdsprachenerwerb galten. Der persönliche Kontakt zwischen Schüler und Lehrer bleibt eben unersetzlich.

Schule besteht nicht nur aus Unterricht. Wer erinnert sich als Lehrer schon an besonders gelungene oder misslungene Stunden. Wer kann als Schüler die Sternstunden der Kulturrezeption angemessen würdigen?

Im Gedächtnis bleiben die anderen Gelegenheiten, Abibälle, früher im Saale Honerkamp, dann im Schulzentrum Lindath-Südwest, zwischendurch auch mal im Haus des Gastes in Wellingholzhausen, seit ein paar Jahren im Forum, Ausflüge der gesamten Schule mit einem Sonderzug, nach Köln, nach Hamburg, in den Harz, ein völlig verregneter Sponsorenlauf, mit dem der Grundstein für die Stiftung des Gymnasiums Melle gelegt wurde, eine Revue zum fünfzigjährigen Bestehen, der Milleniumslauf, bei dem zweitausend Läufer je zweitausend Meter liefen, nacheinander, Tag und Nacht, mehr als eine Woche lang, ein Schulfest zur Einweihung des Neubaus, mit Versteigerung und Männerballett, die Feiern zur Verabschiedung des langjährigen Schulleiters, der Tag der Niedersachsen in Melle, Kurstreffen, Klassen- und Studienfahrten und – und – und –

Die Kursfahrt nach London stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Der Bus sollte uns am Samstagabend um zehn Uhr in Melle aufnehmen. Als er um elf Uhr immer noch nicht aufgetaucht war, musste ich etwas unternehmen. Ich rief den Veranstalter an, der verwies mich an den Busunternehmer. Der wusste von nichts, gab mir aber die Handynummer des Busfahrers. Es stellte sich heraus, dieser war, aus Kassel kommend, noch vor Göttingen in eine Vollsperrung hineingefahren, die bereits seit einer Woche angekündigt war.

Morgens gegen fünf Uhr kam schließlich der Bus, zur Hälfte besetzt mit einer Gruppe aus Göttingen. In London waren wir in einem wunderbar zentral gelegenen Hotel am Piccadilly Circus einquartiert. Der erste überwältigend vornehme und stilvolle Eindruck der Empfangshalle verlor sich mit jedem Stockwerk ein wenig mehr. Wir bezogen Zimmer im fünften Stock.

Gegen zwei Uhr in der Nacht drang ein eigenartig unterbrochenes Pfeifen an mein Ohr. Es dauerte wohl eine Viertelstunde, bis ich aus dem tiefsten Schlaf heraus meine Gedanken soweit geordnet hatte, dass ich es als Feueralarm erkannte. Weitere Minuten vergingen, bis ich mich angezogen hatte.

Auf dem Flur wuselten Hotelgäste mit und ohne Gepäck. Meine Kursfahrtteilnehmer waren nicht darunter. Die hatten den ersten Abend in London zu einem Bummel genutzt. An jeder Zimmertür musste ich längere Zeit arbeiten, bis ich sie alle wach hatte. Alles Volk strömte durch das Treppenhaus hinunter, junge Leute mit Bierdosen, verschlafene Touristen, Mütter im Nachthemd mit Strickjacke, Rollkoffern und quengelnden Kindern. Im zweiten Stock kam uns eine Hotelangestellte entgegen und klärte uns auf, dass es sich um einen Fehlalarm handelte.

In der zweiten Nacht störte eine energische Stimme meinen Schlaf. Notgedrungen machte ich auf, und die Türöffnung wurde gänzlich ausgefüllt durch einem Hünen vom Sicherheitsdienst. Er verlangte, bei meinen Leuten für sofortige Ruhe zu sorgen, anderenfalls er diese noch in der Nacht auf die Straße setzen würde.

Zwei Nächte später weckte mich zaghaftes Klopfen. Ich versuchte, es zu ignorieren. Als mir das auf die Dauer nicht gelang, fand ich draußen eine meiner Schülerinnen, die schluchzend klagte, sie käme nicht wieder in ihr Zimmer. Da auch mein rabiateres Öffnungsbegehren nichts fruchtete, blieb mir nichts anderes üblich, als mitten in der Nacht an der Rezeption einen zusätzlichen Zimmerschlüssel zu besorgen.

Die Rückfahrt, wiederum ein Nachtfahrt, kostete ein weiteres Mal den Schlaf, denn wer kann schon schlafen in einem engen Bus oder in schlechtriechenden Schiffssesseln! Soweit meine letzte Kursfahrt.

Damit kein falscher Eindruck nachbleibt, wiederhole ich hier noch einmal, was ich bei meiner Verabschiedung schon zu sagen Gelegenheit hatte:

Ich habe das Gefühl, irgendwie schwang in den vielen Reden unausgesprochen die Frage mit, wie man es so lange in der Schule aushalten kann. Nun: Ich bin immer ganz gerne hergekommen, und das erleichtert die Sache ungemein. Sie alle – Schüler, Lehrer, Mitarbeiter – haben es mir aber auch wirklich leicht gemacht, gerne herzukommen, und dafür möchte ich mich herzlich bedanken.
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