Mein Jakobsweg

Santiago, den 12.5.2008

Die Pilgerreise ist zu Ende. Noch ein paar Tage Santiago, dann geht es nach Hause. Die Zeit ist gekommen, zurückzublicken und, wie man so sagt, Bilanz zu ziehen. Was hat sich erfüllt?

Die Stetigkeit des Wanderns vermittelte Ruhe, dies umso klarer, je länger es ging, denn mit der Übung wuchs die Kraft. Und da wir unsere Etappen nicht wie andere verlängerten, wozu auch, der Rückflug war ja fest gebucht, endeten die Tage mit immer geringerer Erschöpfung und waren doch erfüllt genug, die Vorstellung zu vermitteln, dem Ziel jedesmal ein Stück näher gekommen zu sein.

Dieses Erfolgsgefühl war wichtiger Bestandteil meines Jakobsweges, und deshalb konnte ich neidlos auf jene blicken, die in größeren Etappen vorankamen. Ich hatte das Gefühl, das Meinige zu leisten, und das, ohne mich zu verausgaben.

Wenn ich nach den ersten Tagen die zurückgelegte Strecke mit der noch verbleibenden verglich, wurde mir die Größe der selbstgestellten Aufgabe drastisch bewusst. Doch dann sind wir angekommen, und die Gewissheit, ein anspruchsvolles, aber realistisches Ziel uns gesetzt, es unbeirrt verfolgt und an der eigenen Kraft nicht gezweifelt zu haben, erfüllte uns mit Genugtuung.

Wir haben dieses Ziel ohne Blessuren erreicht. Wir hatten vielleicht auch eine Menge Glück, das Wetter war nur ausnahmsweise wirklich schlecht, die Füße waren nie wund, die Muskeln nie verspannt, die Sehnen nie entzündet. Das war sicherlich auch eine Folge davon, dass wir mit Augenmaß geplant und Selbstüberforderung vermieden hatten. Und so ist auch die am Ende erworbene Compostela kein Ablass und keine Ehrenurkunde, sondern nur die schriftliche Bestätigung: Wir haben es gewollt, geplant, getan, geschafft.

Aber warum musste das unbedingt auf dem Jakobsweg sein?

Rein äußerlich bietet er gute Rahmenbedingungen für eine Langwanderung. Er führt durch ein fremdes Land mit andersartigen Landschaften. Man ist trotzdem nicht ganz auf sich allein angewiesen, sondern weiß stets, dank der vielen, vielen gelben Pfeile, wie und wo es weitergeht. Man findet auch als Fremder immer ein Bett und eine Mahlzeit. Und, das zeugt von der Beliebtheit des Jakobsweges, man trifft viele Menschen, und die meisten sind offen freundlich, aufgeschlossen und hilfsbereit.

Das hängt vielleicht mit dem anderen Aspekt zusammen. Der Jakobsweg ist nicht nur ein x-beliebiger Wanderweg wie der Rennsteig oder der Schwarzwaldhöhenweg, sondern stets bleibt im Hinterkopf die Erkenntnis präsent, dass viele Jahrhunderte lang Menschen diesen Weg gegangen sind. Sie haben Mühen und Gefahren auf sich genommen. Viele sind nicht wieder heimgekehrt, einige nicht einmal bis Santiago gekommen. Sie haben ihre Hoffnung oder ihre Angst, ihr Leid oder ihre Dankbarkeit mitgebracht, die meisten getrieben von ihrem Glauben und ihrer Frömmigkeit.

Auch wenn wir Glauben und Frömmigkeit nicht mit ihnen teilen, fühlt man sich doch mit ihnen verbunden. Ich will nicht sagen, durch ähnliche Erfahrung verbunden, denn von der Mühsal früherer Pilgerschaft konnten wir wohl nur eine vage Vorstellung gewinnen. Uns trennen eben doch trotz dieses Gefühls der Verbundenheit Welten und Jahrhunderte.

Wir haben uns von den symbolischen Handlungen ferngehalten. Wir haben keinen Stein abgelegt, den Jakobus nicht umarmt und auch unsere Kleidung nicht verbrannt. Und doch steckt sogar in den unscheinbaren gelben Pfeilen ein Schuss Symbolik. Sie scheinen eben nicht nur anzugeben, wie es als Nächstes weitergeht, sondern auch auf ein fernes Ziel zu deuten, vielleicht sogar darüber hinaus.

Die Bedeutung des Jakobsweges liegt für mich nicht in den haarsträubenden Legenden, die zu seiner Entstehung führten, auch nicht in der Erlösung von Diesseitsleid oder Jenseitsangst, sondern in dem Bewusstsein, in einer langen Tradition zu stehen, die viele Herzen bewegt und auch unsere nicht ganz unbeteiligt gelassen hat.

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