Mathem. Plaudereien

Vorhersagen

Hängt die verdammten Wissenschaftler!

(Ben Goldacre, The Guardian, Samstag, den 19.6.2010)

(Das englische Original und weitere Beiträge finden sich auf Ben Goldacres Website badscience (25.1.2020). Ein Auswahl der Artikel ist auch als Buch erschienen: Goldacre, Ben, Die Wissenschaftslüge, Fischer Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-596-18510-8.)

Am 6. April 2009 zerstörte ein Erdbeben der Stärke 5,8 auf der Richter-Skala die Stadt L′Aquila in den Abruzzen in Italien. Es war eine Tragödie, Hunderte von Einwohnern wurden getötet. Wie großartig wäre es, wenn wir jene Risiken wenigstens verlässlich vorhersagen könnten, die zwar selten eintreten, aber deren tragische Folgen sich nicht exakt vorhersagen lassen, sei es eine Grippeepidemie, ein Mord, eine Krankheit oder ein Erdbeben. Die meisten von uns wissen sehr wohl, das ist unmöglich.

Aber mancher mag sich damit nicht abfinden. Die Staatsanwaltschaft von L′Aquila ist nun in Aktion getreten. Es gibt da eine Comissione Grandi Rischi, eine Kommission für große Risiken, besetzt mit zahlreichen Seismologen. Wenn diese Leute ein Erdbeben nicht vorhersagen können, wozu dann das Ganze? Und deshalb werden jetzt die Seismologen der fahrlässigen Tötung angeklagt und dieserhalb vernommen, eben weil sie es versäumt haben, die Bevölkerung rechtzeitig vor dem bevorstehenden Erdbeben zu warnen.

Man kann sich einer Reihe von Mitgliedern verschiedener Royal Societies anschließen und dagegen auf qurl.com/quake1) protestieren. Natürlich wären die italienischen Behörden gerne informiert worden, und sei es von Wissenchaftlern, die lieber alle Vorsicht in den Wind schlagen und ihre Stimme erheben auch ohne ausreichende Hinweise. Eigenartigerweise ist genau das eine Woche vor dem Erdbeben passiert.

Der Labortechniker Gioacchino Giuliani glaubte, er könne Erdbeben voraussagen, indem er messe, wieviel Radon der Erdboden emittiert. Er ignorierte die Zweifel der Seismologen, er hat auch seine Theorien und Beweise niemals in einer wissenschaftlichen Zeitschrift publiziert, aber er besorgte sich einige Messgeräte, um seine Vorhersagen zu treffen.

Kurz vor dem Erdbeben gewann Giuliano die Überzeugung, etwas sehr Ernstes stünde bevor. Verzweifelt versuchte er, die Öffentlichkeit zu warnen, er postete sogar ein Video auf YouTube, in dem er seine Theorie darlegte und die Leute dringend aufforderte, ihre Häuser zu verlassen. Lautsprecherwagen fuhren herum und verbreiteten seine Warnungen. Vergeblich versuchte Giuliano, den Bürgermeister zu überzeugen, seine Warnung ernst zu nehmen.

Aber sie beachteten seine Warnung nicht, im Gegenteil, die örtlichen Behörden meldeten ihn der Polizei wegen unbegründeter Panikmache, zwangen ihn, seine Warnungen aus dem Internet zu entfernen und untersagten ihm, irgendetwas von einem bevorstehenden Erdbeben unter die Leute zu bringen.

In Wirklichkeit war Giulianos Vorhersage natürlich nur ein Glückstreffer, wobei er sich auch noch um 55 Kilometer verschätzte. Es ist immer noch so, es gibt keinen verlässlichen oder erfolgreichen Weg, ein Erdbeben vorherzusagen. Und weil das so ist, sind sich Seismologen auf der ganzen Welt einig, die Bevölkerung schützt man am besten nicht durch ein sowieso unmögliches Frühwarnsystem, sondern durch gezielte Vorsorge, um den Schaden, hervorgerufen durch solch ein seltenes, unvorhersehbares, schreckliches Ereignis, zu begrenzen.

Also: Zieht Karten mit den Häufigkeiten seismische Ereigneisse zu Rate, um herauszufinden, wo und nicht wann das Risiko am größten ist. Ă„ndert Bauvorschriften, damit Wohnhäuser weniger leicht zusammmenbrechen und die Bewohner unter sich begraben. Verlangt Verbesserungen an bestehenden Gebäuden. Seht zu, dass die Leute wissen, was zu tun ist, wenn das Schlimmste eintritt, und stattet eure Rettungskräfte aus mit der erforderlichen Ausrüstung, die auch den Ernstfall übersteht.

Wenn dann der politische Notfall eintritt und ihr erkennt, ihr habt versäumt, alles dies zur allgemeinen Zufriedenheit zu bewerkstelligen, dann könnst ihr immer noch ein paar Wissenschaftlern fahrlässige Tötung anhängen. Aber dies sollte wirklich der letzte Ausweg sein.

(Übersetzung L. Melching)

1) URL inzwischen gelöscht (26.12.2010)
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